Halloweenkurzgeschichte
Diese Geschichte ist mein Beitrag zu den #Halloweenkurzgeschichten und dem #Autor_innensonntag von @justine_thereadingmermaid , @calvincozym_fantasyautor und @olaf_raack_autor.
TRIGGERWARNUNG:
Diese Horrorgeschichte enthält Gewalt gegen Tiere und Menschen, einschließlich angedeuteter sexueller Gewalt.
Für Kinder sowie für Menschen mit Angst vor Spinnen ist sie definitiv nicht geeigent.
ECHTE MÄNNER
„Klar traue ich mich“, blaffte Pauls großer Bruder Leon ihn an und spuckte seinen Kaugummi in hohem Bogen über den morschen Holzzaun. Paul verfolgte die Flugbahn des Kaugummis bis in das Beet halb verblühter, blassrosa Blumen. Beinahe meinte er, der Kaugummi müsse beim Aufschlag die kühle Stille und die Nebelschleier genauso zerreißen wie der Böller, den Leon einige Tage zuvor über den Zaun geworfen hatte, um seine Freundin zu beeindrucken.
Aber natürlich geschah nichts dergleichen. Die Abenddämmerung blieb so still und starr, dass der ungepflegte Garten und das zwischen zwei Tannen eingeklemmte Haus wie ein Bild vor ihm lagen. Die einzige Bewegung war das flackernde Licht der Kürbislaternen auf der Treppe, vor der Eingangstür des Hauses.
Ihres Hauses. Des Hauses von Frau Weber. Des Hauses der alten Ökoschlampe, wie sein Papa sie einmal gegenüber seiner Mama genannt hatte, als Paul von den beiden unbemerkt in die Küche gekommen war. Mamas Gesicht hatte ihn vermuten lassen, dass das ein hässliches Wort war, und so hatte er sich selbst versprochen, es nicht zu benutzen.
„Die alte Ökoschlampe hat sogar noch mehr verdient als nur das! Die und ihre verfickte Bürgerinitiative!“, riss Leon ihn aus seinen Gedanken und spuckte dem Kaugummi noch eine Ladung Rotze hinterher. „Wenn unser Alter den Auftrag bekommen hätte, hätte er mir längst das neue X-Phone gekauft. Aber nein, ich muss immer noch diesen Scheiß hier benutzen.“ Er zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und drückte es Paul in die Hand. „Du filmst mich dabei. Das schick ich dann Lina. Aber nur filmen, klar? Wenn du wieder in meinen Nachrichten rumschnüffelst, dann verpass ich dir dieses Mal mehr als nur ein paar in deine Fresse. Dann kick ich dir deine Zwergeneier so gründlich zu Matsch, dass nie ein Mann aus dir wird, kapiert?“
Paul wusste nicht, was Leon damit meinte, aber eines wusste er genau: Es war jetzt besser, ganz schnell eifrig zu nicken. Er wollte schließlich auch einmal ein Mann werden.
„Und jetzt film, los!“, sagte Leon.
Noch einmal nickte Paul, dann startete er die Aufnahme. Auf das Zirpen des Telefons hin schwang sich Leon über den Zaun. Obwohl er fast geräuschlos auf der anderen Seite aufkam, zuckte Paul zusammen. Gehört hatte Frau Weber es vielleicht nicht, aber sie könnte es doch gefühlt haben!
Paul musste an den Nachmittag im Spätsommer denken, als er beim Spielen am Gartenschuppen das Netz entdeckt hatte. So still hatte die schwarz-gelb-weiß gestreifte Spinne darin gesessen, so verdorrt hatte sie ausgesehen, dass er nachprüfen wollte, ob sie nicht vielleicht tot war. Er zupfte den Kopf eines Löwenzahns ab und zwirbelte ihn eine Weile unentschlossen zwischen Daumen und Zeigefinger. Schließlich warf er ihn ins Netz. So plötzlich klappte die Spinne ihre Glieder aus, dass Paul laut aufschrie. Das Schwingen des Netzes, während die Spinne sich über die arme Blüte hermachte, war so schrecklich anzusehen, dass Paul nicht aufhören konnte zu schreien.
„Was geht denn mit dir ab, du Idiot?“
Leon war aufgetaucht. Ehe Paul sich versah, hatte Leon das Spinnennetz mit einem Ast zerfetzt. Die Spinne krabbelte in Richtung des Rasens über den staubigen Boden, doch Leon stellte sich ihr in den Weg und zog grinsend ein Taschenmesser hervor. „Ich hasse diese Viecher“, sagte er, ging in die Hocke und rammte das Messer durch die Spinne in die Erde. Das Grinsen wich dabei nicht von seinem Gesicht. Halb zerschnitten, halb zerquetscht, machte die Spinne hilflose, zuckende Bewegungen mit ihren Beinen, immer langsamer und langsamer. „Ja, mach die Beine breit, du Schlampe“, sagte Leon auf eine Art, die Paul ganz fremd war. Dabei drehte er das Messer hin und her und trieb es immer tiefer in den Boden.
Paul fühlte den Brechreiz in sich aufsteigen, gerade so, als vollführte die Spinne ihren Todestanz in seinem Hals. Aber er wollte vor Leon keine Schwäche zeigen, und so schluckte er seinen Ekel hinunter und sagte: „Warst du wieder mit dem Messer in der Schule? Mama hat dir doch verboten …“
„Du wirst nie ein Mann, wenn du dich von Frauen herumkommandieren lässt“, unterbrach Leon ihn. Er zog das Messer aus der Erde, wischte es an seiner Jeans ab und steckte es zugeklappt zurück in seine Hosentasche. „Echte Männer lassen sich von Weibern nichts vorschreiben. Merk dir das, du Schisser.“
Als Leon schon ein paar Schritte in Richtung Haus gegangen war, fragte Paul: „Ist Papa dann gar kein echter Mann?“
Leon drehte sich um, die Augen zusammengekniffen. „Was soll denn die bescheuerte Frage?“
„Gar nichts“, sagte Paul, denn er hatte Angst, dass er noch einmal das Fremde in Leons Stimme hören würde, wenn er ihn wütend machte.
Als Leon nach drinnen verschwunden war, sah Paul auf die Stelle, an der die Spinne gestorben war. Ganz in der Nähe lag die gelbe Blüte. Paul hob sie auf und säuberte sie behutsam von den hängengebliebenen Spinnweben. Er hatte sich vor der Spinne gefürchtet, doch nun tat sie ihm leid. Ihm tat auch der Löwenzahn leid. Er fühlte sich schuld am Tod beider. Schützend legte er seine Hände wie eine Kugel um die Blüte und ließ seine Stirn dagegen sinken.
Mit geschlossenen Augen dachte er noch einmal über Leons Worte nach. Wenn ein echter Mann sich von Frauen nichts vorschreiben ließ, wieso hatte sein Papa dann gegen Frau Weber verloren? Die Firma seines Papas baute und vermietete viele, viele Häuser, einige davon auch hier in Paukenberg. Das Hotel am Unkenried, gar nicht weit weg von da, wo sie wohnten, hätte das größte von allen werden sollen. Doch dann, als die Bagger schon bereitgestanden hatten, war Frau Weber erschienen, und mit ihr etwas, das die Erwachsenen eine „Bürgerinitiative“ nannten. Paul wusste nicht genau, was das war, aber es musste etwas ganz Schlimmes sein, so wie seine Eltern darüber sprachen. Manchmal nannten sie die Bürgerinitiative auch „die Hexe und ihre Spinner“. Paul vermutete, dass die „Spinner“ deshalb so hießen, weil sie irgendwann einmal Spinnen gewesen waren, die Frau Weber dann in Menschen verwandelt hatte, damit sie ihr gegen seinen Papa halfen. Als die Spinner schließlich gewonnen hatten und Frau Weber im Fernsehen darüber gesprochen hatte, da war sie ihm wirklich wie eine Hexe vorgekommen, mir ihren schwarzen Haaren und ihren flatternden Kleidern. Die Menschen würden immer mehr Fäden im Netz des Lebens zerreißen, hatte sie gesagt, aber die Natur würde sich früher oder später rächen.
War das etwas, was richtige Männer tun mussten? Zerreißen und zerstören, um danach etwas zu aufzubauen? Wollte er dann wirklich ein richtiger Mann werden? Der Gedanke an den sinnlos abgerissenen Kopf des Löwenzahns drängte sich Paul auf. Er öffnete seine Augen und dann langsam auch seine Hände. Da lag die Blüte vor ihm, leuchtend gelb und doch tot. Auf seinen Händen aber waren hässliche, braune Flecken! Das Blut des Löwenzahns?
„Du sollst mich filmen, nicht den Boden, du Idiot!“
Leons Stimme riss Paul aus seinen Gedanken in die kalte Gegenwart zurück. Sein Bruder zertrampelte eben das Beet, in welches er zuvor den Kaugummi gespuckt hatte. Schnell richtete Paul das Mobiltelefon wieder auf ihn aus. Jetzt tat es ihm leid, dass er Leon herausgefordert hatte. Dass er zu ihm gesagt hatte, dass er sich bestimmt nicht trauen würde, eine von Frau Webers Kürbislaternen zu klauen.
„Leon, komm zurück!“, rief Paul. Obwohl sein Bruder schon ein echter Mann war, hatte Paul jetzt Angst um ihn. Schließlich hatte Frau Weber schon bewiesen, dass sie sogar stärker als echte Männer war. Sie würde fühlen, dass jemand in ihren Garten eingedrungen war. Dass jemand sich ihrem Haus näherte, welches geduldig in der Mitte ihres Grundstücks lauerte wie …
„Halt die Fresse! Das muss ich nachher alles rausschneiden!“ Leon stieg die Treppe zur Haustür hoch. „Jetzt kommt das Beste, also reiß dich endlich zusammen!“
Er betrat den fahlen Lichtkreis der Kürbislaternen, beugte sich zu ihnen hinunter und machte ihr Grinsen nach. Dann hob er einen der Kürbisse hoch und hielt ihn so vor sein Gesicht, dass es aussah, als wäre dieser sein Kopf. Dazu machte er stöhnende Geräusche. „Ich … ich … bin eine verfluchte Seele! Mein Gehirn … es brennt, es breeennt in Ewigkeit!“ Dann lachte er auf und schleuderte den Kürbis zu Boden. Platschend spritzte das Fruchtfleisch in alle Richtungen. „Oder vielleicht doch nur, bis es über die Treppe der Ököschlampe verteilt ist,“ rief Leon. Dann griff er sich die nächste Laterne. Platsch! Platsch! Die Augenlichter der übrigen Kürbisse erloschen nach und nach, und ihre Überreste tropften zäh von Stufe zu Stufe. Leon setzte sein Zerstörungswerk an den übrigen, nicht zu Laternen verarbeiteten Kürbissen fort.
Da ging plötzlich ein Licht im Haus an.
„Hinter dir!“, rief Paul.
Leon drehte sich um. Etwas bewegte sich hinter der milchigen Glasscheibe der Haustür, ganz nahe beim ihm. Er bückte sich blitzschnell nach einem Kürbis, klemmte ihn sich unter den Arm und sprang dann mit einem Satz über die Treppe hinweg in den Garten. Als er auf dem Rückweg zum Zaun ein weiteres Mal durch das Blumenbeet trampelte, öffnete sich die Tür.
Frau Weber, in einem gestreiften Rollkragenpullover und Pantoffeln, trat auf die Schwelle und rief: „Was fällt dir ein!“ Sie machte einen weiteren Schritt, wollte anscheinend Leon nachsetzen, dann passierte es: Mit einem Schrei rutschte sie auf der Treppe aus. Laut knallend schlug ihr Hinterkopf auf den Stufen auf, Kürbisfleisch spritzte hoch.
Es folgte ein weiterer Knall, jetzt zwischen Pauls Füßen: Vor Schreck hatte er das Telefon auf die Straße fallen lassen, aber er verstand das Geräusch erst, als das Gerät noch zweimal vom Asphalt hochgeprallt und dann endlich zum Liegen gekommen war.
„Ich glaub’s nicht!“, zischte Leon ihn von der anderen Seite des Zauns an. Mit einem kalten Blick streckte er Paul den Kürbis entgegen. „Halt das!“ Er schwang sich zurück auf die Straße, dann gab es einen dritten Knall, als er Paul eine Ohrfeige verpasste. „Ach, den beschissenen Kürbis lässt du jetzt nicht fallen, aber mein Telefon, das ja?“, schrie Leon so laut, dass Paul nicht wusste, ob sein Ohr davon oder von dem Schlag schmerzte. Schnaubend hob Leon sein Telefon auf und hielt es Paul vors Gesicht: „Sieh nur, was du gemacht hast!“ Der Bildschirm war gesprungen, das Bild der Videoaufnahme aber wie eingefroren, so dass es aussah, als befände sich Leons Kopf hinter der Mitte eines Spinnennetzes. Hinter ihm aber, seltsam verschwommen, da lag …
„Frau Weber!“, rief Paul. Von der Treppe her erklang ein Röcheln. „Wir müssen ihr helfen! Sie hat …“
„Blödsinn“, unterbrach Leon ihn. „Geschieht ihr doch recht, dass sie sich auf die Fresse gelegt hat. Die kommt schon wieder zu sich.“ Er stockte, schaute stirnrunzelnd auf seine Hände. „Was ist denn das für eine Scheiße?“ Da sah es Paul auch: Leons Fingerkuppen waren alle schwarz, wie von Ruß. „Na toll, das ist bestimmt von den abgewichsten Kerzen. Ist sowieso Zeit, nach Hause zu gehen. Den Kürbis trägst du.“ Mit diesen Worten wandte sich Leon von Paul ab und ging los.
„Aber Frau Weber …“
„JETZT KOMM SCHON!“
Im Gehen drehte Paul sich noch einmal in Richtung des Hauses um. Auf der Treppe machte Frau Weber hilflose, zuckende Bewegungen mit ihren Beinen. Paul holte Luft, als wolle er etwas sagen, doch er wusste nicht, was. Dann fiel sein Blick auf den Kürbis, den er immer noch fest umklammert hielt. Auf dem leuchtenden Orange prangten schwarze Fingerabdrücke.
Es begann zu regnen, und so beeilte sich Paul, zu Leon aufzuholen.
„Oh, wo hast du den denn her?“, begrüßte Pauls Mama ihn, als er mit dem Kürbis die Küche betrat. Gerade war sie dabei, Zimtstangen in einen Topf auf dem Herd zu werfen, in dem etwas vor sich hin blubberte. Daneben lagen Orangenschalen. Paul kannte den Geruch, der in der Luft lag: Glühwein. Davon durfte er aber noch nicht trinken, weil er noch zu klein war. Ehe Paul antworten konnte, drängelte Leon sich vor, streckte seine Nase in den Topf und sagte: „Den hab ich besorgt, Paul hat ihn nur getragen.“
„Besorgt?“, sagte Mama mit hochgezogener Augenbraue. „Die Geschäfte sind längst alle zu.“
„Hab ich der Ökoschlampe aus dem Garten geklaut.“
„Aber Leon!“, sagte Mama auf eine Art, als wolle sie um jeden Preis böse klingen, ohne selbst davon überzeugt zu sein. Dann verzog sich ihr Gesicht zu demselben breiten Grinsen, das Leon so oft auflegte. „Daraus mache ich uns morgen zum Mittagessen eine Cremesuppe, wäre das was? Schließlich ist dann auch Halloween. Ein Kürbis aus dem Garten einer bösen Hexe, das passt doch.“
„Lass mich in Ruhe mit diesem Ami-Scheiß“, ertönte da Papas Stimme aus dem Esszimmer. Papier raschelte, dann erschien er mit einer Zeitung in den Händen im Türrahmen. „Aber sagt mal, seid ihr euch sicher, dass die Weber nichts mitgekriegt hat? Ich hab schon mehr als genug Ärger wegen der.“
Paul schluckte. Vielleicht wäre es besser, wenn er seinen Eltern sagte, was passiert war? Es konnte doch sein, dass Frau Weber ein Pflaster oder so etwas brauchte, und soweit er wusste, lebte sie alleine.
Leon winkte ab. „Die hat uns garantiert nicht gesehen. Ich schwör’s, bei meiner Seele, oder wie das heißt.“
Wieder holte Paul Luft, und wieder wusste er nicht, was sagen. Ihm war, als müsse er an all der überflüssigen Luft ersticken.
Mit diesem Gefühl schlief Paul später am Abend dann auch ein. Die Träume kamen dieses Mal auf eine fremde Weise zu ihm. Sonst war es immer so, als ob er in die Träume eintauchen würde wie in Wasser: in warmes, wenn es angenehme Träume waren, in kaltes, wenn es böse Träume waren. In dieser Nacht aber war es umgekehrt: Es waren die Träume, die in ihn eintauchten. Ihn durchflossen. Wie eisiger, giftiger, klebriger Schleim.
Dann war der Schleim nicht nur in ihm, sondern auch überall um ihn. Er hatte sich verirrt und watete nun, auf der Suche nach dem Haus seiner Eltern, unter einem orangeroten Himmel durch eine zähe Masse, deren Farbe er in dem seltsamen Licht nicht richtig erkennen konnte. Vielleicht war sie einfach nur grau, vielleicht war sie aber auch so orange wie der Himmel, der sich wie eine fast zum Greifen nahe Kuppel über ihm spannte. Ja, es mochte wohl Kürbisfleisch sein, durch das er watete, und der Himmel war die Schale! Er war im Inneren eines Kürbis gefangen.
„Das hättest du wohl gerne“, hörte er da Frau Webers Stimme hinter sich. Während er sich mühsam in dem zähen Schleim umdrehte, sprach sie weiter. „Das ist mein Gehirn, in dem hier herumtrampelst wie dein Bruder in meinen Blumen.“
Pauls Herz setzte zunächst einen Schlag aus, trommelte dann aber umso schneller weiter, als er es endlich geschafft hatte, sich umzudrehen und sehen konnte, was da zu ihm sprach: Es sah fast aus wie Frau Weber, als er sie zuletzt gesehen hatte, in ihrem schwarz-gelb-weiß gestreiften Rollkragenpullover; aber es war, als wäre dieser nicht aus Stoff, sondern aus Haut – aus Frau Webers Haut – gemacht. Ihr Kopf aber war gesprungen wie der Bildschirm von Leons Telefon. „Ja, es ist alles ausgelaufen, siehst du?“, sagte sie. Während sie sprach, tastete eine Vielzahl gegliederter Beinchen aus ihrem Mund, zog sich dann wieder ins Dunkle zurück wie ein Einsiedlerkrebs in seine Muschel. „Und du steckst mit drin, Paul. Wenn du jemals wieder hier rauskommen willst, dann musst du das alles aufessen, ob du willst oder nicht.“ Sie richtete ihren Zeigefinger auf ihn, dann ballte sie ihre Hand zu einer Faust und ließ sie langsam sinken.
Etwas zog Paul nach unten, in die zähklebrige Masse hinein. Egal wie sehr er strampelte, er konnte sich nicht befreien. Schon war er bis zur Hüfte eingesunken. Er schrie, schrie so laut er konnte nach seiner Mama. Sie würde in sein Zimmer kommen, ihn aufwecken und ihn ihre Arme nehmen. Ja, das war der Weg nach Hause!
„Deine Mama kann dir nicht helfen“, sagte Frau Weber lachend. Es war, als ob sie seine Gedanken lesen konnte! „Oh nein“, sagte sie, „es ist umgekehrt! Du bist in meinen Gedanken. Ich denke dich.“
Egal was das Monster erzählte, Paul musste einfach nur aufwachen und alles würde gut werden. Da fiel ihm etwas ein, was Leons Freundin Lina ihm einmal erzählt hatte: Er sollte im Traum versuchen, seine Hände anzusehen. Wenn er das schaffen würde, hätte er Kontrolle über den Traum und könnte auch aufwachen, wenn er nur wollte.
Frau Weber lachte noch lauter als zuvor, und was auch immer in ihrer Mundhöhle wohnte, ließ seine Beinchen noch wilder über ihre Lippen tanzen als zuvor. „Du willst es nicht verstehen, oder? Das hier ist kein Traum! Aber nur zu, sieh sie dir an, deine kleinen Händchen!“
Und da sah Paul die dunklen Flecken auf seinen Fingern, so wie im Sommer, nachdem er neben der toten Spinne die Löwenzahnblüte geknetet hatte.
„Mit Wasser kannst du das nicht mehr abwaschen“, sagte das Frau-Weber-Wesen, nun ganz ohne zu lachen, voller Bitterkeit. „Nur Blut von deinem Blut vermag das.“
Paul schluchzte: „Was … was willst du von mir?“
„Ah! Jetzt verstehst du endlich, wie das funktioniert, Paulchen.“ Sie wischte mit der Hand durch die Luft, und das Ziehen an Pauls Füßen hörte auf. „Einen Handel will ich mit dir abschließen. Weißt du, was das ist? Ich will etwas mit dir tauschen. Du hast etwas, das ich will, und ich weiß auch, was du willst.“ Sie griff hinter sich, und von irgendwoher hatte sie plötzlich einen Kürbis in der Hand. Nicht irgendeinen Kürbis, sondern den, den Leon geklaut hatte. Paul erkannte ihn an den schwarzen Fingerabdrücken. „Siehst du, wie gut der zu dir passt? Zu deinen schmutzigen Händen?“, sagte Frau Weber. „Schließlich warst du es, der Leon zu mir geschickt hat. In mein Netz. Weil du nicht mehr der kleine Bruder sein willst. Also gib mir, was ich haben möchte, und wir gewinnen beide. Gib es mir. Es ist direkt hinter dir. Nein, dreh dich nicht um! Fühle einfach mit deiner Hand.“
Paul tastete hinter sich. Da war etwas Zartes. Eine Blüte an einem Stängel. An der Form der Blätter erfühlte er es schließlich. Es war ein Löwenzahn.
„Gib ihn mir!“, befahl Frau Weber. „Mach dir keine Mühe, ihn ganz herauszuziehen, die Wurzel reicht Jahrhunderte tief. Mir reicht der Kopf.“
Pauls Finger schlossen sich um die Blüte. Er zögerte.
„Es ist deine Entscheidung“, sagte Frau Weber. „Es steht dir natürlich frei, stattdessen alles aufzuessen.“ Sie reckte den kleinen Finger ihrer freien Hand ganz leicht in die Höhe.
Paul fühlte, wie sich etwas um seine Beine schlang. Schnell tastete er hinter sich nach der Blume, griff zu und riss. Langsam brachte er seine Hand wieder nach vorne und öffnete sie unter den aufmerksamen Blicken Frau Webers. Auf seiner Handfläche lag der Kopf des Löwenzahns. Frau Weber senkte ihre Hand auf seine herab, während ihre Finger einen irren Tanz vollführten – so, als wäre ihre Hand nur die Hülle eines anderen, eigenständigen Lebewesens. Als die vielen kleinen Berührungen Pauls Handfläche kitzelten, schüttelte es ihn vor Ekel. Er schloss die Augen. Dann endete der Tanz.
Als er die Augen wieder öffnete, war aus der gelben Blüte ein weißer Pusteblumenkopf geworden. Frau Weber führte diesen langsam zu ihrem Mund. Die Beinchen schnellten daraus hervor und zerrten ihn hinein. Frau Weber schloss ihre Augen und lächelte. Dann schluckte sie. Etwas passierte mit ihrer Stirn. Sie riss ihre Augen auf. Es waren jetzt acht. „Sehr gut“, sagte sie. „Unser Tausch ist fast vollständig. Nun nimm deinen Teil entgegen.“ Sie hielt ihm den Kürbis hin.
Paul umfasste den Kürbis mit beiden Händen. Diese zitterten genauso wie seine Stimme. „Darf ich jetzt nach Hause?“
„Aber ja doch. Ich bestehe sogar darauf. Du musst schließlich etwas für mich dorthin bringen. Halte einfach den Kürbis vor dein Gesicht und sprich die Worte.“
Paul gehorchte. Er wusste nicht woher, aber er kannte die Worte, und so sagte er: „Ich bin eine verfluchte Seele.“
Der Himmel wurde schwarz. Alles wurde schwarz. Paul hörte Frau Webers Stimme ganz nahe an seinem Ohr, während unzählige Beinchen ihn dort betasteten: „Jetzt schlaf endlich, Paul. Du wirst morgen einen schweren Tag haben.“
Als Paul aufwachte, war es schon fast Mittag. Trotzdem fühlte er sich, als hätte er gar nicht geschlafen. Er schlurfte in die Küche, weil er Stimmen und Radiomusik von dort hörte. Der Geruch frisch aufgeschnittener Zwiebeln lag in der Luft.
Mama sah vom Schneidbrett auf. „Oh, hast du es endlich geschafft?“, sagte sie. „Ich hab versucht dich zu wecken, aber du hast geschlafen wie ein Toter. Das Frühstück hast du verpasst. Aber macht nichts, setz dich doch zu den anderen ins Esszimmer. In der Zwischenzeit …“ Sie machte ein irres Gesicht und zeigte mit dem Messer auf den Kürbis auf der Arbeitsplatte. „… schlachte ich den hier, hahaha!“ Dann legte sie den Kopf etwas schief und fuhr normal fort: „Du meine Güte, Paulchen, jetzt schau doch nicht so. Das sollte witzig sein. Aber ich bin wirklich etwas böse auf den Kürbis. Ich habe ihn stundenlang geschrubbt, aber die schwarzen Flecken habe ich nicht weggekriegt. Ich werde ihn also schälen müssen, bevor ich ihn zerhacke. Schade, denn von der Schale bekommt die Cremesuppe erst richtig Farbe. Dieses kräftige Orange.“
„Ich habe keinen Hunger“, sagte Paul.
„Der Appetit kommt sicher bald beim Essen“, sagte Mama. „Geh doch schon mal ins Esszimmer, Papa freut sich bestimmt, wenn er nicht die ganze Zeit mit Leon alleine dort sitzen muss.“
Papa freute sich wohl weniger, als Mama es vermutet hatte. Jedenfalls war er nicht sehr gesprächig, sondern schien eher in seine Zeitung vertieft. Leon hatte nicht einmal den Kopf gehoben, als Paul ins Zimmer gekommen war. Er war damit beschäftigt, auf seinem Telefon herumzudrücken. Als Paul neben ihn trat, sah er, wie sich Leons Gesicht auf dem zerbrochenen Bildschirm spiegelte, als wäre es in der Mitte eines Spinnennetzes.
Aus der Küche drang die Stimme der Radiosprecherin: „Hier ist Radio Paukenberg, und das waren die Rolling Stones mit ‚Dandelion‘. Als nächstes hören wir … Oh, einen Moment, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, eben erreicht uns eine Eilmeldung. Aranka Weber, die Gründerin der Bürgerinitiative „Grünes Netzwerk“, ist anscheinend durch einen Unfall ums Leben gekommen. Bleiben Sie dran, wir berichten gleich in den 12-Uhr-Nachrichten ausführlicher zu diesem Thema.“
Papa schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: „Ja! Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf der Welt!“
„Schatz, das ist wunderbar!“, hörte Paul Mama aus der Küche rufen. „Die Hexe sind wir los, und jetzt ist ihr hässlicher Kürbis dran. Oh, das wird ein Fest.“
Leon starrte weiter auf sein Telefon, als hätte er von alledem nichts gehört.
Panik ergriff Paul. „Wirf es weg!“, sagte er zu Leon.
Der sah nun doch auf. „Was?“
„Dein Telefon! Wirf es weg!“
„Spinner“, schnaubte Leon.
„Frau Weber! Sie ist da drin!“ Paul versuchte Leon das Telefon aus der Hand zu reißen, doch der wehrte sich, und sie begannen miteinander zu rangeln.
„Was hast du für ein Problem, Alter?“ schrie Leon. Schließlich entglitt das Telefon seinem Griff, flog durch die Luft und landete im angrenzenden Wohnzimmer.
„Ihr hört sofort damit auf!“, donnerte Papa.
Leon feuerte einen eisigen Blick auf Paul ab und sagte: „Ich bring dich um, ich schwör’s, ey!“ Dann trottete er ins Wohnzimmer und kroch unter den Tisch, von wo aus er versuchte, das unter das Sofa gerutschte Telefon zu erreichen.
Nach wenigen Sekunden Stille ertönte Mamas Schrei aus der Küche. „Au!“ Dann ein metallisches Scheppern. „Verdammte Scheiße! Ich hab mich geschnitten.“
Papa sprang auf, um nach ihr zu sehen. Gleichzeitig rumpelte etwas im Wohnzimmer.
Paul wollte zuerst Papa in die Küche folgen, aber dann hörte er ein ersticktes Keuchen aus dem Wohnzimmer, gefolgt von einem weiteren Rumpeln und dann von einem ohrenbetäubenden Krachen und Klirren. Von seinem Standpunkt aus konnte Paul sehen, dass die Wohnzimmervitrine umgekippt war.
Wutentbrannt kam Papa ins Esszimmer gestürzt, gefolgt von Mama, die sich ihren Daumen in den Mund gesteckt hatte. „Was zur Hölle ist in euch gefahren?“, brüllte Papa.
Da kam Leon ins Esszimmer gewankt.
Paul verstand nicht, was er sah: Es sah so aus, als ob sich Leon einen Kürbis auf den Kopf gesteckt hätte und ihn jetzt nicht mehr abnehmen konnte. Seine Hände ruckten und zerrten daran, während er blind hin und her stolperte, begleitet von einem dumpfen, wortlosen Brüllen.
Mama schrie: „Leon! Das ist nicht … witzig. Leon? Leon?!“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu, versuchte den Kürbis zu fassen zu bekommen, verschmierte ihn mit ihrem Blut. „Thomas! Hilf mir!“
Papa begann ebenfalls, an dem Kürbis zu zerren, während der ein immer unmenschlicheres Gurgeln von sich gab. Leon machte hilflose, zuckende Bewegungen mit seinen Armen und Beinen. Plötzlich entglitt der Kürbis Papas und Mamas Griff, die beiden fielen in die eine Richtung und rissen dabei Paul mit sich zu Boden; Leon stürzte in die andere Richtung. Der Kürbis krachte gegen die Wand. Eine orangerote Masse spritzte in alle Richtungen. Leons Beine und Arme bewegten sich nicht mehr.
Mama schaffte es zuerst, sich halb wieder aufzurappeln. „Mein Gott, Leon!“, sagte sie, während sie in dessen Richtung kroch. „Du hast mir einen solchen Schrecken einge … Leon?“ Sie warf Kürbisschalen, Samen und Fruchtfleisch zur Seite. Leon bemerkte, dass die Kürbisschale schwarze Flecken hatte. Etwas bewegte sich in der schleimigen Masse. Mama griff hinein, zog dann mit einem Schmerzensschrei ihre Hand zurück. „Er hat mich gebissen!“ Da schälte sich eine schwarz-gelb-weiß gestreifte Spinne aus dem Haufen hervor und krabbelte überraschend schnell in Richtung Küche.
Papa stürzte neben Mama und wühlte mit weit aufgerissenen Augen in den Überresten des Kürbisses. Er atmete schwer, sein Mund klappte auf und wieder zu. Er wollte offensichtlich etwas sagen, doch da kamen keine Worte.
Mama umklammerte mit ihrer blutenden Hand ihre andere und sagte tonlos: „Aber wo … wo ist sein … ich verstehe nicht …“
Papa zerrte den bewegungslosen Leon an den Schultern nach oben. Paul drehte sich schnell weg. Er wollte das nicht sehen. Langsam, ganz langsam, ging er in die Küche, während Mama hinter ihm anfing zu schluchzen.
Paul sah die Spinne gerade noch hinter dem Küchenschrank verschwinden. Dann klatschte der erste rote Tropfen auf den weißen Fliesenboden, gefolgt von einem zweiten, dritten, und so fort, bis schließlich ein kleines Rinnsal daraus wurde. Es kam von der Arbeitsfläche, wo Mama zuvor den Kürbis geschält hatte. Etwas lag auf dem Schneidbrett, aber es war kein Kürbis.
Paul verstand nicht, was er sah.